5. Interview

Pünktlich am Dienstag, den 28.09.2021 14.00 Uhr stehe ich in seinem Büro. Die Rollläden sind heruntergelassen, nur die Kerze auf dem Schreibtisch wirft spärliches Licht in den Raum. Es riecht nach Möbelpolitur.
„Professor Doktor Kenroth?! Hallo?! Sind Sie da?“
Ich erhalte keine Antwort und setze mich an den Schreibtisch. Er wird wohl gleich erscheinen, er ist zuverlässig. Auf seinem Schreibtisch herrscht großes Durcheinander. Das verwundert mich, war er bisher doch immer ein sehr ordnungsbewusster Mensch. Steuerunterlagen, Kassenbons, Notizzettel, Bußgeldbescheide, Rechnungen, Mahnbescheide, eine rot-schwarze Lesebrille, Kopfhörer, ein weinroter mit Goldornamenten verzierter Füllfederhalter, ein Locher, kleine Tintenfässchen, Stempelkissen, Stempel, USB- Stecker, Laptop und Kopfhörer. Außerhalb dieses Chaos´ steht ein Foto seiner Kinder, die ich nur schemenhaft im Halbdunkel erkenne. Daneben Staubwedel, die Schreibtischunterlage eines Bierproduzenten und ein Bluetoothlautsprecher.
Ein Luftzug, die Kerze flackert.
„Schattenthemen, mein Lieber, Schattenthemen!“
Ich fahre hoch, mein Herz rast.
„Herr Professor?!“
„Ähem, Professor Doktor Kenroth, ja?!“
„Professor Doktor Kenroth? Wo sind Sie?“
Ich will zum Lichtschalter.
„Nein, mein Lieber! Setzen Sie sich wieder, ja?!“
„Aber ich wollte nur Licht... .“
„Setzen Sie sich!“
Seinem Tonfall nach duldet er keinen Widerspruch und so setze ich mich.
„Was sagten Sie doch gleich?“
„Schattenthemen, mein Lieber.“
„Was soll das bedeuten: Schattenthemen?“
„Nun, das ist ganz einfach: Nennen Sie mir das Datum unseres letzten Interviews.“
„Das war der 21.09.2021. Warum?“
Der Professor atmet hörbar aus.
„Nehmen Sie die Quersumme.“
Ich rechne kurz nach.
„17, die Quersumme ist 17.“
„Gut. 17 ist unsere Basis. Wir sehen uns jeden Dienstag. Die sieben Tage zwischen den Treffen stellen für uns eine Zeiteinheit dar. Also rechnen sie zur 17 die 1, also eine Zeiteinheit, hinzu.“
„Worauf wollen Sie hinaus?“
„Rechnen Sie!“
„Gut, also 18.“
„Eben, mein Lieber. Deshalb die Kerze: 18 –  Schattenthemen.“
Ich begreife nicht. Hinter mir im Dunkel Schritte und schon taucht er auf und setzt sich in seinen Ledersessel. Er deutet auf die Kerze.
„Schatten, verstehen Sie? Diese Kerze verursacht Schatten. Die Bedeutung der Zahl  18: Schattenthemen.“
„Ja und?!“
„Und in diesem Fall Ihre Schattenthemen. Die Zahl 18 deutet auf Ihr Unterbewusstsein, Ihre Schattenthemen, verstehen Sie? Nicht sichtbar, immer im Schatten, es sei denn, sie werfen Licht auf sie.“
„Und was stellt die Kerze dar? Mein Unterbewusstsein mit den Schattenthemen – verstehe. Aber die Kerze?“
„Sie verstehen? Ich bemerke, Sie verstehen gar nichts. Ja, eigentlich noch weniger als das.“
„Dann erklären Sie es mir, Professor Doktor Kenroth.“
„Gut, mein Lieber, gut. Schattenthemen sind Lügen, Ängste, Egoismus und Unwissenheit. Ich schätze mal, für Sie trifft eher Unwissenheit zu. Sie befinden sich am Beginn einer Aufgabe. Zu viele Fragen, zu viele Antwortmöglichkeiten, zu viele Welten, die Sie da, mein Lieber, auftun müssen. Das führt unweigerlich zu Krankheit.“
„Wie bitte?! Wollen Sie damit andeuten, ich werde krank?“
„Nun, ähem, nicht ganz. Sie haben einen Vorteil.“
„So, einen Vorteil.“
„Ja, mein Lieber. Es ist der letzte Dienstag. Das ist Ihr ganz persönlicher Vorteil. Nennen Sie ihn Ihren `Vorteilsdienstag´.“
„Vorteilsdienstag?“
Ich verstehe nicht.
„Nun, sehen Sie, der letzte Dienstag stellt Ihre Basis dar, quasi Ihr Sprungbrett. Und dieses Sprungbrett oder diese Basis stellt die 17 dar.“
„Und was hat das zu bedeuten?“
„Lassen Sie mich höflicherweise ausreden, ja?! Sie sind Optimist, der Wahrheit verpflichtet, ein Guter, ein Positiver – nennen Sie es wie Sie wollen und nehmen Sie die Führung aus der geistigen Welt in Anspruch. Projekte, die Sie unter dieser Zahl beginnen, werden erfolgreich sein – das hat es zu bedeuten.“
„Meine Basis ist also der Erfolg und nun werde ich mit meinen Schattenthemen, wie Sie es nennen, konfrontiert?“
„Ja.“
„Und die Kerze? Wer ist die Kerze? Etwa Sie?“
Der Professor antwortet nicht.
„Gut, nehmen wir mal an, Sie stellen die Kerze dar, Professor Doktor Kenroth. Dann werfen Sie Licht auf meine Schattenthemen. Da ja heute die Zahl 18 herrscht – sage ich mal – wird mir heute einiges über meine Schattenthemen bewusst. Habe ich Sie da richtig verstanden?“
„Ja, mein Lieber. Bisher ahnten Sie nicht einmal, dass es Schattenthemen gibt. Ähem,  was beschäftigte Sie doch gleich letzten Dienstag?“
Ich denke einen Moment nach.
„Ich hatte eine Idee: Was wäre, wenn jemand oder etwas diese Bücher selbst schreibt, statt sie in der äußeren Welt nur zusammenzusuchen? Und jedes Mal, wenn es oder er eines fertigstellt, fügt er es der Bibliothek hinzu. Und diese selbst geschriebenen Bücher nennt er oder es dann die `Verlorenen Bücher´. Das würde bedeuten, er oder es hätte diese Bücher in Gedanken, in eigener Fantasie, wiedergefunden. Die logische Schlussfolgerung: Man hatte sie einst verloren – die verlorenen Bücher. Ich denke hier an Remote- Viewing, wenn es Ihnen etwas sagt.“
Der Professor nickt und gibt Zeichen, weiterzureden.
„Die Frage, die sich mir jetzt stellt: Wann sind jene Bücher verlorengegangen und: Wer hat sie verloren?“
„Sehr gut, sehr gut, mein Lieber. Wie ich es erwartet hatte: Es handelt sich nicht um Bücher, die irgendwo real existieren, vielleicht existierten sie einst, wurden dann verbrannt, und nun hat er oder es die Aufgabe, sie neu zu erschaffen. Quasi aus dem Gedächtnis.“
Es entsteht eine Pause, in der er eine der Schreibtischschubladen aufzieht, zwei Flaschen Mineralwasser hervorholt und mir eine davon reicht.
Gerade will ich das Etikett lesen, da erlischt die Kerze. Der Professor läutet mit einer Handklingel, die Tür öffnet sich einen Spalt und der Kopf der Sekretärin schiebt sich hindurch.
„Könnten Sie bitte die Rollläden öffnen? Ja? Dankeschön!“
Leises Brummen, die Rollläden öffnen sich.
Es ist ein grauer Tag, eine dichte Wolkendecke hängt über der Universität und ab und an klopfen Regentropfen an die hohen Fensterscheiben.
Der Professor nimmt einen langen Zug aus der Mineralwasserflasche.
„Aah, das nenn ich mal ein Wasser!“
Bedächtig schraubt er sie zu und verstaut die Flache wieder in der Schublade.
„`Monte Vesuvio´. Dieses Wasser kommt direkt vom Vesuv?“
Der Professor grinst, während ich einen Schluck nehme. Es ist weiches Wasser, angenehm im Geschmack und geht wie Öl die Kehle hinunter.
„Professor Doktor Kenroth, Sie sagten, er oder es habe eine Aufgabe.“
„Das ist nur natürlich, mein Lieber. Sehen Sie, sobald irgendetwas verlorengeht und Sie es suchen, ist es eine Aufgabe.“
„Natürlich. Nur, die Frage ist: Von wem hat er oder es diese Aufgabe bekommen?“
Der Professor dreht sich mit dem Sessel zum Fenster und sieht eine Weile hinaus.
„Sehen Sie die Taube dort drüben auf dem Fenstersims?“
Ich erhebe mich.
„Klar, was ist mit ihr?“
„Was tut sie dort?“
„Sie pickt die Körner vom Sims.“
„Richtig. Warum macht sie das?“
„Weil sie hungrig ist?“
„Genau, mein Lieber: Weil sie hungrig ist. Es ist ihre Aufgabe zu fressen, sobald sie hungrig ist.“
Der Professor wendet sich mir zu.
„Und wer gab ihr diese Aufgabe?“
„Ah so, verstehe. Sie meinen... .“
„... er oder es trägt diese Aufgabe in sich. Entweder sie ist der KI einprogrammiert oder der Autor hat sie mit auf seinen Lebensweg bekommen – sozusagen aus einer anderen Dimension. Aber, mein Lieber, wir sprachen über Schattenthemen.“
„Ja, klar.“
„Ähem, ich hoffe mal, Sie haben sich eines dieser Bücher bereits besorgt?“
„Ja, `Bizarre Geschichten, Band I´, warum?“
„Gut. Haben Sie schon einen Blick hineingeworfen?“
„Nein, habe ich noch nicht.“
„War es die Angst vor Neuem?“
„Nein, Professor, ich war...“
„Ähem, Professor Doktor Kenroth, bitte, ja?!“
„Oh, ja, entschuldigen Sie, Professor Doktor Kenroth. Ich war geschäftlich unterwegs und ... .“
„Nun, mein Lieber, Sie haben eine volle Woche, bis nächsten Dienstag, 05. Oktober. Bis dahin sollten Sie Ihr Schattenthema `Unwissenheit´ etwas ins Licht rücken – wenn Sie verstehen.“
„Na klar.“
Es klopft an der Tür, die Sekretärin kommt herein.
„Herr Professor Doktor Kenroth, Ihr Flug geht in einer Stunde.“
„Oh, ähem, ja, danke meine Gute.“
Die Sekretärin verlässt den Raum, die Tür schließt sich.
„Sie verreisen heute noch? Eine Exkursion?“
„Nun, mein Lieber, wenn Sie es so nennen möchten – ja.“
Der Professor erhebt sich.
„Wohin geht´s denn?“
„Nun, mein Lieber, ich bin dem Band I auf der Spur. Denken Sie mobil, wir treffen uns dort zum nächsten Interview.“
„Wo?“
Der Professor antwortet nicht, reicht mir die Hand und verabschiedet sich hastig.

>><<