6. Interview

Der 05. Oktober. Es ist ein regnerischer Tag, doch ich sitze gemütlich und trocken im Rotmaincenter in einem der Cafés und blättere wahllos in `Bizarre Geschichten, Band I´. Der italienische Espresso schmeckt nach Pappe.
„Hallo?! Ja, Sie! Würden Sie mir bitte etwas Zucker bringen?“
„Liegt auf dem Tisch!“, zischt die Alte und wendet sich einem anderen Kunden zu. Sie macht einen abgearbeiteten Eindruck, ist so um die 40 Jahre und scheint sehr resolut zu sein. Ich mag solche Frauen nicht.
„Zippe!“, flüstere ich, nehme das Buch zur Seite und entdecke darunter zwei Papierröhrchen mit Zucker darin. 
Doch auch damit lässt sich der Geschmack dieses Zeitungspapierespressos nicht übertünchen und so bestelle ich mir einen Kaffee.
Es ist noch nicht viel los um diese frühe Stunde. Der einzige Gast sitzt etwa 3 Meter von mir entfernt in der Nähe der Theke und hat sich hinter der Tageszeitung `Nordbayerischer Kurier´ verschanzt. Einige ältere Damen eilen in eines der Bekleidungsgeschäfte und ich habe Ruhe, nachzudenken.
Ich hoffe, nicht gänzlich mit meiner Annahme daneben zu liegen, was den Treffpunkt mit dem Professor anbelangt.
„Denken Sie mobil!“, hatte er mir geraten. Was ich zunächst nicht zu deuten verstand, offenbarte sich mir, als ich das erste Mal den Band 1 der `Bizarren Geschichten´ las. Es war die Kurzgeschichte `Haben Sie eine Minute Zeit´, die vom Busfahrplan der Stadt Bayreuth handelt. Die erstgenannte Buslinie, Linie 1, deren erster Halt jene Rotmainhalle war. Viel hatte sich seit damals verändert, doch die Halle existiert noch. Sie war verschlossen, womit ich annahm, jenen Ort als Treffpunkt vernachlässigen zu können.
„Ihr Kaffee!“
Ich schrecke hoch. Die Alte kann sich ein schadenfreudiges Grinsen nicht verkneifen.
„Dreifünfzig!“, herrscht sie mich an.
Ich zähle das Geld genau ab, Trinkgeld gibt es keines. Aufgebracht läuft sie zu jenem Gast in der Nähe der Theke hinüber.
Ein schlanker Typ. Trenchcoat, schwarze vornehme Schuhe, schwarze Socken, Jeans und sein Oberteil - ist durch die Zeitung abgedeckt. Auch er ordert einen Kaffee.
„Wohin?“, ihre Stimme klingt verwundert. Was er sagt, verstehe ich nicht, doch sie wirft mir einen irritierten Blick zu.
„Sind sie sicher?“
Alte Schraube!
Kenroth und ich hatten uns das letzte Mal über `Schattenthemen´ unterhalten und seiner Ansicht nach sollte ich das Schattenthema `Unwissenheit´ etwas ins Licht rücken. Natürlich hatte ich mir daraufhin den Band I der `Bizarren Geschichten´ gekauft, und so einiges Nützliches entdeckt.
Dort hieß es irgendwo: `Die letzte Aufklärung: der Tod, die Rückkehr des Mysteriums aus der Materie´.
Ein leichter Schauer jagt mir über den Rücken, als ich unwillkürlich an jenes Blutritual denke. Die Wunde unter Kenroths und meinem Auge – würde es sich wohl noch steigern? Würde ich den Tod über meine Nachforschungen finden?
„So, der Kaffee!“
Ich schrecke hoch. Diese Alte bringt es doch fertig, mich wieder zu erschrecken!
„Was soll das?! Ich habe nichts bestellt!“
„Nein, Sie vielleicht nicht, aber der Herr dort drüben!“
Ich werfe einen Blick zu jenem Gast, doch der versteckt sich weiterhin hinter seiner Zeitung.
„Er gibt mir einen Kaffee aus?!“, frage ich die Kratzbürstige. Doch sie reagiert nicht.
„Dankeschön, der Herr!“, rufe ich.
„Augenblick! Ich komme zu Ihnen!“
Ich kannte diese Stimme: Professor Doktor Kenroth!
Als der Gast die Zeitung zusammenlegt, erkenne ich ihn.
„Professor!“
Ich gebe zu, ich bin überrascht. Wie lange hatte er hier schon gesessen und mich  beobachtet?
„Bitte! Professor Doktor Kenroth, ja?!“. Er klingt etwas empört. Dann nimmt er seinen Kaffee, steht auf und kommt zu mir herüber.
„Ich nehme an, bei Ihnen ist noch ein Platz frei?“. Er grinst, wir schütteln uns die Hände.
„Ich habe Sie gar nicht erwartet, Herr Professor Doktor Kenroth!“
„Danke für das Lob, mein Guter! Überraschung ist ein Werkzeug der Aufklärung.“
Er legt seinen Trenchcoat ordentlich über eine Stuhllehne, setzt sich und nimmt einen Schluck Kaffee.
„Nein.“, er schüttelt den Kopf, „Sie haben recht, mein Lieber.“
„Ich? Womit?“
„Dieser Kaffee schmeckt wie Pappe.“
Ich lache. Wie genau musste er mich beobachtet haben!
„Nun, mein Lieber, wie ich sehe, haben Sie sich mit Ihrem Schattenthema `Unwissenheit´ erfolgreich auseinandergesetzt – jedenfalls, was unseren Treffpunkt anbelangt.“
„Freut mich, dass Sie mich so loben, Herr Professor Doktor Kenroth. Wirklich.“
Der Professor schmunzelt.
„Aber sagen Sie, Herr Professor Doktor Kenroth: Warum ausgerechnet Bayreuth?“
Kenroth schmunzelt und nickt.
„Nun, in Band I ist der Buslinienfahrplan Bayreuths enthalten. Und da wir … .“
„... auf der Spur jener geheimnisvollen Bibliothek und ihres Erschaffers sind, sollten wir uns der Stadt einmal annehmen...“, ergänze ich.
„Ja, ähem, ganz richtig, mein Guter!“
„Aber sagen Sie, unsere Zeit wäre erst 14.00 Uhr gewesen. Hätten Sie solange gewartet?“
„Klar!“, der Professor nippt an seinem ekligen Kaffee.
Angewidert verzieht er das Gesicht und winkt die Bedienung herbei.
Unwillig kommt sie zu uns herüber.
„Bitteschön?!“
„Sagen Sie, meine Gute, dieser Kaffee schmeckt ganz und gar nicht. Können Sie mir einen anderen bringen?“
Die alte Schachtel runzelt die Stirn.
„Wieso sollte der nicht schmecken? Das hat mir hier noch niemand gesagt!“
Entrüstet stemmt sie die Arme in die Hüfte.
„Gut, dann bin ich wohl der Erste, der den Mut aufbringt, Ihnen zu sagen: der Kaffee schmeckt, als ob ein Hund hineingepisst hat!“
Mühsam versuche ich, mein Lachen zu unterdrücken, doch dann pruste ich los.
„Ja, was denn, mein Guter?! Haben Sie es nicht auch festgestellt?“
Ich nicke, Tränen laufen mir die Wange hinunter. Was war er doch für ein Scherzkeks! Das hätte ich ihm nie zugetraut! Immerhin ist er Professor und bedient sich solcher Worte!
Die Bedienung stampft aufgebracht zur Theke hinüber und führt dort kopfschüttelnd ein lautstarkes Gespräch mit der Kollegin. Diese wirft uns verstohlene Blicke zu und hält sich entsetzt die Hand vor den Mund. Eine zeitlang tuscheln die beiden, dann kommt die Alte zu Kenroth und knallt ihm den Kaffee auf den Tisch.
„So, hoffen wir mal, der schmeckt Ihnen etwas besser! Ansonsten dürfen Sie gerne ein Café weitergehen!“
Der Professor reagiert nicht auf ihren Seitenhieb, rührt zwei Zucker in den Kaffee, schlürft daran und nickt.
„Warum nicht gleich so!“, raunt er.
„Also, Herr Professor Doktor Kenroth: was haben Sie herausgefunden?“
„Nun, der Band I wurde in Bayreuth geschrieben.“
„Das ist etwas mager, wenn ich so darüber nachdenke.“, erwidere ich, „Das hätte man sich denken können.“
Der Professor schmunzelt und rührt versonnen in der Tasse. Schließlich legt er den Kaffeelöffel zur Seite und sieht mich an.
„Mein Guter, Sie sitzen noch dick im Schatten! Ich habe da einen Verdacht: es handelt sich hier nicht um eine KI. Es muss vielmehr ein Mensch aus Fleisch und Blut sein!“
„Wie kommen Sie denn jetzt darauf?“
„Sehen Sie: Der Bayreuther Busfahrplan – also musste es Bayreuth sein. Dann seine nächste Geschichte `Weihnachten – wenn ich daran denke´! Er gibt dort an, in der Nähe eines Krankenhauses zu wohnen, von denen es in Bayreuth einige gibt: die Klinik Herzoghöhe, das Krankenhaus Hohe Warte, das Bezirkskrankenhaus am Nordring und das Klinikum am Roten Hügel.“
„Ja, Herr Professor Doktor Kenroth, Seite 33.“
„Ganz wohl, mein Lieber, ganz wohl. Dort schreibt er, dass die Tiere durch sein Fenster schauen. Es handelt sich also um ein Haus, in dem er ein Zimmer, eine Stube gemietet hatte, denn er redet sehr viel von `Stube´ oder `seinem Zimmer´. Die Stube lag damit im Souterrain. Wo sonst können Wildtiere durch das Fenster schauen. Ferner berichtet er in einer seiner nächsten Geschichten von einem in der Nähe gelegenen Tal mit einem Weiher und das -“, der Professor macht eine bedeutungsvolle Pause und nippt an seinem Kaffee, „das führt uns nach Oberpreuschwitz. In der Nähe liegt das Klinikum, in der Nähe befindet sich ein Tal mit einem kleinen Weiher. Auch die Sitzbank habe ich dort entdeckt, Frösche, Enten, Fischotter – alles dort, wie beschrieben! Und dann habe ich seine ehemalige Souterrainwohnung gefunden. Ein Flachdachhaus in der Antonstraße.“
Der Professor scheint ein sehr guter Detektiv zu sein.
„Gut, Herr Professor Doktor Kenroth. Damit haben wir den ehemaligen Wohnort des Autors: Antonstraße, Oberpreuschwitz, Bayreuth.“
„Ja, ähem, wirklich genial!“
„Und dafür, Herr Professor Doktor Kenroth, haben Sie sich mit dem Flugzeug nach Bayreuth begeben? Hätte man das nicht im Einwohnermelderegister einfacher verfolgen können?“
„Nun, mein Lieber, bedenken Sie, dass wir hier hinter zwei Vermutungen her sind: einmal könnte der Bibliothekar eine KI sein, zum Anderen ein Mensch.“
„Also, die Künstliche Intelligenz als Bibliothekar und Autor auf der einen und der Autor als Bibliothekar auf der anderen Seite .“
„Hervorragend! So ist es.“
Ich nehme einen Schluck Kaffee. Er ist bereits kalt und schmeckt nur noch scheußlich.
„Wenn also der Autor selbst der Bibliothekar ist, dann werden wir ihn finden und befragen können?“
„Sehr gut, sehr gut, mein Lieber.“
„Und darauf arbeiten wir hin, Herr Professor Doktor Kenroth?“
„So ist es, mein Lieber!“
„Gut, dann fahre ich mal hin und sehe mir an, wie er gelebt hat. Wenn es nicht stimmig ist, handelt es sich wahrscheinlich um eine KI.“
„Machen Sie das, machen Sie das. Wir sehen uns dann wieder am Dienstag den 12. Oktober, ja?!“
Er steht auf, zieht den Trenchcoat über, flippt drei Ein-Euro-Stücke auf den Tisch und geht.
„Aber, Herr Professor Doktor Kenroth!“
Ich eile hinter ihm her, doch er macht keine Anstalten stehen zu bleiben.
„Herr Professor!“
Endlich hält er inne, dreht sich um und zischt: „Für Sie immer noch `Herr Professor Doktor Kenroth´, ja?!“
„Ja, Verzeihung, Herr Professor Doktor Kenroth! Wo treffen wir uns denn das nächste Mal?“
„Ähem, ja, gut, dass Sie fragen: Uni Freiburg, Lehrstuhl Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie. Sie wissen wie Sie hinkommen!“, und damit lässt er mich einfach stehen.

>><<